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AutorenbildFiona Mählmann

Von einer Mainstage ohne FLINTA* Personen und zu sanften Randalen

Fiona Mählmann besuchte im Juni das Hurricane Festival und nimmt folgende Eindrücken mit.


Vom 16. bis 18. Juni feierte das Hurricane Festival auf dem Scheeßeler Eichenring sein 25. Jubiläum. Die Kleinstadt begrüßte auch in diesem Jahr ca. 76.000 Zuschauer*innen für ein Wochenende voll Musik. Es stehen dieses Mal zu ca. 31% FLINTA*-Acts auf den vier Bühnen des Hurricane. Das sind mehr als in den Vorjahren, und im deutschlandweiten Vergleich großer Festivals ist diese Zahl auch noch ganz ansehnlich, aber kleinere Festivals oder aber beispielsweise auch das diesjährige Berliner Lollapalooza zeigen, dass mehr möglich ist. Die Headliner des Hurricane sind ausschließlich männlich. Das läge daran, dass weibliche* internationale Größen zu teuer seien, wieder andere aber nicht bekannt genug, sagt eine Sprecherin. Eine Umverteilung von Geldern im Booking, auch im Sinne einer jüngeren Zielgruppe wäre dabei natürlich ein naheliegender Ansatz. Das Argument fehlender Beliebtheit sollte sich am Wochenende selbst entkräften.

Am Freitagmorgen begebe ich mich zum Berliner Hauptbahnhof und komme gegen Mittag (nach einigen erwartbaren, aber übersichtlichen Problemen mit der Deutschen Bahn) in Scheeßel an. Es herrscht gute Stimmung bei sommerlichen Temperaturen. Auf dem Weg zum Festivalgelände hört man alle paar Meter andere Musik, am meisten dabei Peter Fox und Kraftklub, die später an diesem Tag auftreten würden. Das Zelt ist zwischen wabernden Staubwolken schnell aufgebaut. Nur etwa 12 Stunden später werde ich hier liegen mit einer Migräne, die gegen die Innenseiten meines Schädels pocht. Ich werde mich fragen, was ich hier eigentlich mache, werde wütend sein und, hätte ich die Kraft, würde ich weinen. Doch ich greife voraus.


Um 15:00 Uhr leitet das Hurricane Swimteam das Festival auf der größten Bühne, der grünen Forest Stage, ein. Wir machen uns aber direkt auf den Weg zu der blauen River Stage, wo Dylan in einem leichten angenehmen Nieselregen spielt. Noch ist es etwas leer vor der Bühne - so leer, wie es die ganzen Tage nicht mehr sein wird. Das Line-Up der River Stage ist offensichtlich so strukturiert, besonders den jüngeren Teil der Festivalgänger*innen zu bedienen, die den Großteil des Publikums ausmachen. Langjährige Hurricane-Stammgäst*innen waren eher vor der Forest Stage, mit den auch entsprechend meist älteren und größtenteils rock-basierten Acts, anzutreffen. Für die Hauptbühne wurde das ganze Wochenende nicht eine Band gebucht, die auch nur eine einzige Frau als festes Mitglied hatten. Dagegen spielten besonders am ersten Tag auf der River Stage überwiegend Frauen und weiblich gelesene Personen. Nach Dylan tritt hier Gayle auf, und nach ihr Ashnikko.

Während ich auf Ashnikko warte, etwas weiter von der Bühne entfernt, fällt mir das Publikum etwas unangenehm auf. Schon seit meiner Ankunft taumeln pöbelnde Gruppen betrunkener Männer herum – so weit, so normal für ein Festival. Irgendwie fühlt es sich aber anders an. Es liegt ein anderes Eskalationspotential in der Luft. Ashnikko und ihre Tänzerinnen liefern eine riesige Show. Sie gibt alles für die noch nicht ganz warme Crowd. Doch die zwei Männer, die vor mir stehen, belächeln sie und erst nach ein paar abwertenden Kommentaren ziehen die beiden endlich weiter. Bei dem Song Invitation steigen mir ein paar Tränen in die Augen. Während auf den anderen Bühnen Männer-Bands etwas halbherzig spielen und die Männer im Publikum zu deren mid-tempo Songs Circle-Pits starten, mühen sich die Künstlerinnen im Rampenlicht ab und werden auch noch als Witz abgetan. Ich bin so wütend.

Auch Bosse, der sich danach auf der Main Stage für Solidarität mit Opfern sexualisierter Gewalt ausspricht, hilft meinem Gemütszustand nicht.


Beim Warten auf Peter Fox ist es mir in der Menge so unwohl, wie ich es noch nie bei einem Musikevent hatte. Ich versuche die Menschen um mich zu ignorieren und tanze ausgelassen zu Peter Fox‘ Songs über Liebe und Akzeptanz, freue mich die M.I.K Family Tanzcrew mit ihm performen zu sehen. Die Show ist hervorragend, nur überträgt sich die gute Laune zu meiner Überraschung nicht auf die Crowd. Es wird bei den neuen Songs nur etwas halbherzig mitgenickt. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Ein Typ fragt mich, ob ich naturverbunden sei und klebt mir, ohne dass ich antworte, ein Sticker mit dem Schriftzug „Gut zu Vögeln“ auf. Ich bin kurz davor zu explodieren, weiß aber auch, dass es nichts bringen wird. Natürlich suche ich den Fehler sofort bei mir. Habe ich zu sorgenfrei getanzt? Keine 10 Minuten später sehe ich den Typ einer anderen Frau einen Sticker an die Schulter kleben. Ich halte es hier nicht mehr aus und ziehe noch vor Ende des Sets weiter zur River Stage, wo Tash Sultana spielt.

Die Zuschauer*innen sind hier so unglaublich viel angenehmer und lassen sich mit mir von Tashs multiinstrumentaler Loopmaschinen-Kunst begeistern.

Ein kurzer Stopp im Pressezelt und ich merke in der verhältnismäßigen Ruhe, wie sehr mich der Tag mitgenommen hat. Meine Migräne hat mich mal wieder eingeholt und ich ärgere mich jetzt schon, dass ich Kraftklub nicht werde sehen können. Ich bin gerade dabei meine Zähne zu putzen, als ich höre, wie gerade wieder das Glücksrad gedreht wird. „Die spielen safe wieder Scheissindiedisko. Das haben die jedes Mal gedreht, wenn ich die live gesehen habe“, sage ich zu meiner Begleitung, noch mit der Zahnbürste im Mund. Kurz danach klingen die ersten Akkorde von, natürlich, Scheissindiesdisko. Auf dem Weg zurück zum Zelt höre ich noch, wie Felix Kummer Solidarität mit Betroffenen ausruft. Manchmal brauche es Randale, um Sachen zu verändern, sagt er, bevor der Song Randale angestimmt wird.


Als Randale kann man die vielen Aufrufe und Statements an dem Wochenende nicht bezeichnen. Aber eins ist klar: Die Schlagzeilen um Rammstein und Marteria schweben wie die dichten Staubwolken über dem Festival. Auf den Campingplätzen, wie auf den Bühnen, wird sich darüber unterhalten. Geht man zu Marteria? Geht man zu den Ärzten nach deren „Witzen“ über Backstage-Räume, blaue Flecken? Wir sind nicht zu ihnen gegangen, weder noch. Das wohl deutlichste Statement des Wochenendes kommt am zweiten Festivaltag von der Wiener Band My Ugly Clementine. „No is a full sentence. In diesem Sinne, Fuck Rammstein!“ ruft die Gründerin der Supergroup über ein jubelndes Publikum.

Am Samstag wirkt das Publikum wie ausgewechselt. Dicke Luft gibt es heute nur durch die Mengen an Staub, der über das Gelände weht. Ich freue mich sehr über den Ratschlag von N-Joy am Donnerstagabend, Masken oder Bandanas mit einzupacken. Mit Sonnenbrille, Cap und Mundschutz zieht es mich, etwas planloser als am Vortag über das Gelände. Allein vom Stehen habe ich meine Sonnencreme schon komplett weggeschwitzt, während ich aus etwas Distanz die Musik von James Bay genieße und ein wenig zu Two Door Cinema Club tanze. Nach My Ugly Clementine geht es zu der überdachten Wild Coast Stage zu Alli Neumann. Die riesige Diskokugel unter dem Zeltdach dreht sich, während ein demografisch wild durchmischtes Publikum begeistert mitsingt.


Am frühen Abend will ich mich nur kurz um den Flutwelle Instagram Account im Pressezelt kümmern, als es plötzlich anfängt zu gewittern. Kein Hurricane ohne Unwetter. Es schüttet und hagelt und es will einfach nicht aufhören. Ich frage mich, ob mein Zelt überhaupt noch steht, und ob meine Freund*innen noch vor einer der Bühnen sind oder es schon in ihre Zelte geschafft haben. Die Musik draußen geht weiter und ich lasse mir später erzählen, wie viel Spaß man im Regen bei Madsen und Kaffkiez hatte und es pünktlich zum Ende der Sets schon wieder trocken war. Während Marteria auf der großen Forest Stage spielt, koche ich mir etwas zu essen, vermute aber anhand der Lautstärke des Publikums, dass es doch sehr voll bei ihm sein muss. Für einen Moment frage ich mich, wie viele Statements es auf den Bühnen bezüglich Gewalt gegen Frauen noch gegeben hätte, wäre die Diskussion um Rammstein nicht so aktuell gewesen. Offensichtlich gab es doch genug Leute, die Marterias Gerichtsprozess wieder vergessen haben oder die es einfach nicht interessierte.


Nach Mitternacht spielt Casper auf der River Stage. Es ist unglaublich voll. Der Vorhang geht auf, und wer Casper im Vorjahr bei Festivals oder auf Tour gesehen hat, kennt das wunderschöne Blumenset schon. Mit den Überraschungsgästen Drangsal und Tua und einem plötzlichen Auftauchen auf einer Brücke über dem Publikum zwischen zwei Techniktürmen ist Casper das absolute Highlight des Tages. Das erste Mal dieses Wochenende ist die Energie der Crowd für mich richtig zu spüren. Ein nicht enden wollender Chor von „Oh-eh-oh“s und Feuerwerk begleitet Hinterland, und ich weiß, dass ich dieses Wochenende doch nicht bereuen werde.

Am letzten Tag geht es schon sehr früh sehr gut los mit Power Plush. Um 12:30 Uhr ist ihr kurzes Set schon um und wer nicht noch ein wenig vor der Bühne für Majan stehen bleibt, begibt sich schon zu Nina Chuba. Trotzdem noch heißere Temperaturen als an den Vortagen herrschen, und es noch nicht mal 14 Uhr ist, scheint sich das gesamte Festival vor der River Stage zu versammeln. Für ihre Beliebtheit und die Expertise in der Crowd-Control dieser Frau ist der Timeslot absolut zu früh, die Setlänge zu kurz, ja, die zweitgrößte Bühne ist für sie zu klein. Die Stimmung ist zu vergleichen mit der bei Caspers Set am Vortag. Selbst zu bisher unveröffentlichten (aber schon auf der Tour gespielten) Songs öffnen sich Moshpits in der sengenden Nachmittagshitze.

Nach dem Set bin ich komplett nass geschwitzt, und die guten Vibes werden fortgesetzt mit 90s-Techno-inspiriertem Hyperpop von Domiziana. Edwin Rosen spielt back-to-back zu ihrem Set im Zelt am anderen Ende des Festivalgeländes. Als wir ankommen, hört man schon seinen Neue Neue Deutsche Welle Sound und sieht eine riesige Traube von Menschen vor dem Eingang zum Zelt und an den Notausgängen stehen. Einlassstopp. Vor dem Zelt hören wir ein paar Songs zu, bevor eine Pause eingelegt wird.

Um kurz vor sieben spielen The 1975. Das Hurricane ist einer der wenigen Stopps, die die Band in Europa (außerhalb der UK) seit der Pandemie gemacht haben. Trotz vieler Tourdaten wurde noch immer keine EU-Tour angekündigt. Umso mehr freue ich mich und bin extra früh da, um vor dem ersten Wellenbrecher zu stehen. Ich bin mir bewusst, dass der Frontsänger Matt Healy nicht unproblematisch ist in seinen Äußerungen, und ich bemerke, wie ich langsam einen Hauch von Verständnis spüre für Leute, die beispielsweise Marteria auch gerne live sehen wollten. The 1975 haben eine so prägende Rolle in meinem Leben gespielt und tun es immer noch, dass es mir schwerfallen würde, ihre Musik nicht mehr zu hören.


Nach dem Set bin ich komplett ausgelaugt, habe weder Kraft noch Stimme mehr. Etwa eine Stunde später meldet sich meine stete Begleiterin der Migräne wieder. So verbringe ich auch den letzten Abend mit Schmerzen im Zelt, bin aber glücklich. Die Erlebnisse der letzten zwei Tage haben mein persönliches Fiasko des ersten Tages ausgeglichen. Es hat sich doch gelohnt, den Weg auf sich zu nehmen, und ich würde es im nächsten Jahr wieder tun. 2024 werden dann hoffentlich nicht nur noch mehr Frauen auf den Bühnen zu bewundern sein, sondern auch Frauen, die auf der Main Stage die Hauptrolle spielen.

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