Ein persönlicher Konzertbericht von Jule Detlefsen
credits: Hollie Fernando
Ich war neulich mit meiner Mutter im Moshpit. Naja nicht ganz, aber fast. Extra nach Hausse zu fahren, um mit meiner Mutter auf 2 Konzerte zu gehen, gehört wahrscheinlich zu den Sachen, die nicht so oft im Kalender stehen. Und wenn ein Konzertgang mit der eigenen Mutter ansteht, dann sind das in dem meisten Fällen wohl eher Sitz-& Klatschkonzerte. Doch um es in einem Mean Girl Zitat zu sagen: my mom is not a regulär mom, my mom is a cool mom. Denn den Heimatbesuch standen 2 Konzerte auf der To-do-Liste: Die Nerven und Wet Leg. Zwei Bands, die dieses Jahr unheimlich gute Alben veröffentlicht haben. Die Nerven belegen mit ihrem gleichnamigen Album sogar Platz 1 meiner persönlichen Favoritenliste des Jahres.
credits: Lucia Berlanga
Die Nerven oder wie sie sich bescheiden in ihrer Spotify-Bio nennen "the last rockband of europe" spielten im Volksbad Flensburg, eine Venue, die nicht viel größer als die Wohnküche meiner Mutter ist. Die Decke des Clubs war wohl auch kaum höher als 2,5 m. Springen auf der Bühne war bei dieser Höhe auf jeden Fall nicht mehr drin.
Das Volksbad war gefüllt von mittelalten Cis-Männern in schwarzen Shirts und einer Handvoll der beeindruckend coolen Szene Flensburgs. Um in den richtigen Punk-& Flensburg-Spirit zu kommen, bestellten meine Mutter und ich uns ein Flens nach dem anderen. Bevor aus den Flensburger Pilsener dann der ein oder andere Tequila Shot zu viel wurde, startet auch schon die Vorband. Ein hagerer Mann in Henkerskostüm schrammelte fröhliche 20 Minuten die schrägsten Töne, die ich seit Langem gehört hatte auf seiner Gitarre. Fragend schaute sich das Publikum um. Es gab nur wenige Optionen, was hier vor ging. Entweder war das ein extrem experimenteller Pick für eine Supportband oder es war ein Spaß aus den eigenen Reihen.
Meine Theorie bleibt, dass es keine extra Vorband gab, sondern ein Mitglied der Nerven sich das Kostüm überwarf. Sollte das der Fall sein, finde ich es wahnsinnig gagig. 10 von 10 Spaßpunkte. Ansonsten pendeln wir uns auf einer soliden 5/10 für die Vorband ein.
Zum Konzertbeginn kämpften sich Die Nerven unaufgeregt zur Bühne, um mit ihrem unfassbar wichtigen und nachhallenden Song Europa zu starten.
Immer wieder gelingt es der Band in ihren Songs die notwendige musikalische Härte mit bedachtem inhaltlichen Zartsinn zu verbinden.
Live war das wohl beste Album des Jahres, nochmal viel beeindruckender, als ohnehin schon angenommen. Mit starken Instrumentals, noch stärkeren Lyrics und viel Schweiß, der von der Decke des Volksbads in Flensburg tropfte.
Wet Leg hatte ich meiner Mutter bereits Anfang des Jahres empfohlen. So richtig zugehört hatte sie mir damals wohl nicht, als ich ihr nach dem Release von Wet Dream die Band dringlich empfohlen hatte. Aber das ist ein anderes Problem. Zurück zu der UK-Band. Das Konzert fand in Hamburg im Mojo Club statt. Allein die Vene ist schon Highlight genug für einen Abend. Mitten auf der Reeperbahn öffnet sich aus dem Boden die Türen des Clubs. Es sieht fast aus wie ein sehr hochwertiger und viel zu teurer Gully.
Coach Party war als Vorband mitgereist und heizte den Club ordentlich in alter Indierock-Manier ein. Aber nach 15 Minuten war ihr Slot schon vorbei. Von mir aus hätte er noch deutlich länger gehen können.
In selbst gestrickten Mützen mit Katzenohren betrat die Band die Bühne. Diese unvorhersehbare Weirdness der Band ist fast zu ihrem Markenzeichen geworden. Doch nicht nur Weirdness beschreibt das Duo sehr gut. Wet Leg umgibt eine warme Coolness, die Herzen schmelzen und die Knie springen lässt.
Das durchmischte Publikum sprang die vollen 45 Minuten fröhlich durch den Mojo Club. Junge Mädchen, über Mütter, bis hin zu mittelalten Männern, die sich davon hoffentlich keinen Bandscheibenvorfall holten. Und obwohl es längst selbstverständlich sein sollte, bekommen ich doch immer wieder ein gutes Gefühl, wenn Cis-Männer auf Konzerten von FLINTA-Artist stehen und die Zeit ihres Lebens haben.
Nach knapp 45 Minuten war der Spaß jedoch schon wieder vorbei. Mehr hatte die Band nicht zu bieten. Schließlich war „Wet Leg“ ihr Debütalbum.
Nach dem Konzert spazierten wir noch ein wenig über die Reeperbahn und meine Mutter zeigte mir all die Orte, an denen sie früher einen drauf gemacht hat. Vom Frida B. bis hin zur großen Freiheit hatte meine Mutter immer eine neue Geschichte parat, in der sie die ganze Nacht zu Indiemusik tanzte.
Auf der Heimfahrt meinte sie dann zu mir, dass ihre 40er die besten Jahre ihres Lebens waren.
Wenn ich darüber nachdenke, dass ich noch 20 Jahre Zeit habe, um die Zeit meines Lebens zu haben, es immer noch eine letzte Rockband in Europa gibt und immer mehr Männer zu FLINTA-Bands moshen, dann ist die Welt vielleicht doch gar nicht so schlecht.
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