Sam Fender ist mit einem neuen Album zurück! Es fühlt sich an, als wäre kaum Zeit verstrichen, seit sein Debütalbum Hypersonic Missiles erschien, welches im United Kingdom mit Gold ausgezeichnet wurde und ihn zu einem DER Künstler der Indie Rock Szene gemacht hat. Tatsächlich ist der letzte Long Play Release schon zwei Jahre her.
Für seine Musik zog Sam meist Inspiration aus Gesprächen, die er in Pubs mitgehört hat, dichtete die Geschichten Fremder weiter. Die Pandemie schickte ihn aber von der Europatour Anfang 2020 direkt in den Lockdown. Woher dann nun das Material für neue Musik nehmen?
"I didn’t want to write about Covid because fucking no one is ever going to want to hear about that ever again, so this time I went inwards."
Ihm ging es mit der neuen Situation miserabel, aber, wie die Briten sagen: sadness is the mother of beauty. Und das Coming-of-Age Album, das in den letzten anderthalb Jahren entstand, ist wirklich ein Werk der Schönheit. Schönheit, die Sam bereits im Sommer auf den Mainstages der großen Festivals in seinem Heimatland vor Publikum präsentieren durfte; Boardmasters, Isle of Wight, Neighbourhood Weekender, Leeds and Reading. Nächstes Jahr geht er auf Arena Tour in den UK, spielt unter anderem im Wembley Stadium. Auch in den Kritiken wird Sam immer wieder gelobt, erhält hervorragende Bewertungen für seine Musik und wird teilweise als wichtigster Songwriter seiner Generation gehandelt.
Aktuell ist er auf dem Cover der ersten Ausgabe des Rolling Stone UK zu sehen. In weißem Unterhemd, mit Dreitagebart und leicht verschwitzten Haaren. "The unflinching sound of working class Britain", lautet die Schlagzeile. Ein Aufhänger für sein Interview mit dem Guardian ist Sams Beobachtung: "Leftie is now a slur in working-class towns". Sein Gespür für kleine wie große Probleme des Jetzt bewies er bereits auf seinem ersten Album. Auch auf Seventeen Going Under handeln die Texte von gesellschaftlicher Spaltung, sind politisch, aber doch auch immer wieder sehr persönlich und verletzlich.
Der erste Song teilt sich mit dem Album den Titel: Seventeen Going Under. Als erste Single des Albums erschien er bereits am 7. Juli mit der Ankündigung des Albums. In Seventeen Going Under erinnert er sich an seine Jugend in der Küstenstadt North Shields. An wöchentliche Schlägereien am Strand, erste Liebe, Wut, toxische Maskulinität, Depression, die prekäre Lebenssituation mit seiner Mutter. Eine Zusammensetzung an Themen, die meisterlich in ein Textpaket verschnürt wurde und gewickelt in ein euphorisches Instrumental aus Gitarren, mit glitzerndem Glockenspiel, Geordie Slang, und dekoriert mit einem fan-favourite Saxophonsolo. Seventeen Going Under liefert mit seinem Panorama einen idealen Einstieg und schwebt über dem Album, wie Sam am Ende des zugehörigen Musikvideos über seiner Heimatstadt.
Klimpernde Gitarren bilden den Anfang zu dem tanzbaren Getting Started, mit einem Soundbild, das perfekt in einen Coming-of-Age Film passen würde. Der Text malt dazugehöriges Bild: ein Achtzehnjähriger, der gerade durch eine Prüfung nach der anderen rasselt, seine Mutter zu Hause, nachdem sie aufgrund einer Krankheit entlassen wurde, und er, mit den falschen Freunden, die ihm vorleben, wie sie sich mit Drogendealen gutes Geld dazu verdienen. Und der Eskapismus des Ausgehens, alles hinter sich zu lassen. Sam selbst fing nicht damit an Drogen zu verkaufen, auch wenn er mit dem Gedanken spielte. Als seine Mutter sich jedoch die Augen ausheulte, als er ihr davon erzählte, entschied er sich dagegen. Inzwischen gehe es Sams Mutter wieder besser, schreibt der BBC, und sie arbeitet wieder als Krankenschwester für den NHS.
Wie ein Kontrast, ein Aufwachen aus jugendlicher Illusion wirkt der nächste Song im Vergleich. In einem absolut lesenswerten Interview mit Ben Beaumont-Thomas vom Guardian wird Aye als der wütendste Titel, den Sam je geschrieben hat, bezeichnet. Der wütendste, aber vielleicht auch der politischste. Die Ignoranz, aber auch das Involvement der reichsten 1% am weltweiten Unrecht wird angeprangert; mit einem ironischen "Hate the poor, hate the poor, hate the poor…" wird die politische Kultur der stetigen Schuldzuweisung beim Gegner kritisiert und die angebliche Schuld letztendlich dort landet, wo niemand etwas gegen die großen Probleme der Gesellschaft machen kann. Die Wut darüber, von der Politik augegeben worden zu sein, bündelt sich zum Ende des Songs:
"THey never had time for me and you [...] I'm not a fucking anything or anyone."
Foto: Jack Whitefield
Get You Down verbindet, wie so oft in Sams Songs, ernste bis deprimierende Texte mit upbeat Melodien. Lyrisch beschränkt er auf verhältnismäßig wenige Worte, verdeutlicht aber dadurch seine Besonderheit auf der LP. Es ist einer der persönlicheren Titel und einer der ersten, die Sam für dieses Album geschrieben habe. Es geht um Selbstzweifel, die sich, wie Sam in einem Interview mit NME berichtet, seit Kindheitstagen angesammelt haben. Musikalisch nimmt der Titel einen mit auf eine Reise. Lange wiederholt sich das Instrumental, bindet das Saxophon in eine längeres Solo ein, bis in der Bridge Streicher einsetzen. Mit ihnen schwillt der Song an, um die, sich in jedem Refrain öfter wiederholende Zeile „Get you down“, noch einmal zu einem befreienden Mantra werden lässt. Ein Moment, der melodisch einen Wendepunkt des Mindsets erahnen lässt, ein Punkt, an dem nur noch an ein Up zu denken ist.
Long Way Off ist einer der ernsteren Songs auf dem Album. Die Drums geben dem dramatischen Arrangement mit Streichern und Bläsern den Touch eines Work Songs, ein Work Song für die Arbeiterklasse von Heute. Reflektierter als in Aye setzt sich dieser Titel mit politischer Polarität auseinander, festgefahrene Seiten, die die Interessen der 'kleinen Leute' nicht mehr sehen und weit davon entfernt sind, so etwas wie Gerechtigkeit zu erreichen, und es vielleicht genauso wollen.
"The hungry and divided play into the hands of the man who put them there"
In der mid-tempo indie-rock Ballade Spit Of You geht es um Vater-Sohn Beziehungen, basierend auf Sams Verhältnis zu seinem Vater. Er beschreibt wie ähnlich sie sich seien, aber er doch mit ihm nicht reden könne. In der zweiten Strophe wird auch der Tod seiner Großmutter, der Mutter seines Vaters, thematisiert, und Sam sinniert, wie er auch eines Tages die Stirn seines verstorbenen Vaters küssen wird, und dabei weiterhin genauso aussehen wird wie er. Typisch für Sam nimmt der Titel nach dem zweiten Refrain mehr musikalisches Volumen an, es gibt ein Gitarrensolo statt einer Bridge und der Song befindet sich genau auf dem schmalen Grat zwischen traurig und glücklich, aber hey, immerhin gibt es ein funky Saxophonsolo, das einen mit tränenden Augen lächeln lässt.
Religiös, aber auch als Glaubenskrise überrascht Sam mit Last To Make It Home. "Mary, was nach einem Trugbild aussah […] war tatsächlich hier in meiner Hand." Eine allmähliche Feststellung, dass das gottlose Dasein so nicht mehr auszuhalten ist. Sam bedient sich in Ansätzen der jahrhundertealten Literaturtradition der Gegenüberstellung von Mutter und Hure, Jungfrau Maria und Maria Magdalena. Denn Mary der zweiten Strophe ist nur irgendeine Frau online, die er mit einem „Like“ hofft aus seiner Fantasie in die Realität locken zu können und von ihr gesehen zu werden. In dem Instrumental der Bridge wird in verzerrten Gitarrensounds eine Verzweiflung spürbar, eine Zerreißprobe, die letztendlich auf das Trugbild der ersten Mary hinausläuft.
Die schnellen Drums von The Leveller sind danach wie ein Schlag ins Gesicht. Musikalisch erinnert der Titel ein wenig an Nothing but Thieves aber auch an The Smiths, mit teils jammerndem Gesang, zum Ende heulender E-Gitarre und eindringlichen Streichern. Das Warten auf den Zusammenbruch, Ruhelosigkeit im Angesicht der ungewissen Zukunft. Besonders in der Zeile "And the fear ist he closest thing to fun that I have" lässt ein junger Morrisey grüßen. Im Tanzen durch die Krise treffen sich die beiden Musiker, aber Sam bietet einen motivierenden Ausblick. "Don’t you let it get you […] Hold your head up higher."
Mantra liefert auch musikalisch eine Rückbesinnung auf das, was wirklich wichtig ist. Mit einem Folk Sound und so strukturiert, dass die zweite Hälfte des Songs auch ohne Worte auskommt, lädt der Titel mit seinen 'fun trumpets' zum Durchatmen ein. Und nicht nur Leuten in der Medienbranche ist Sams Mantra ans Herz zu legen. Etwas weniger Wert auf die Meinung jener zu legen, die sich gar nicht für dich interessieren und einfach mal abschalten.
Wie der Abspann zu Sams Coming-Of-Age Film klingt Paradigms. Mit kleinen Glockenspieldetails und Build-Up nach Build-Up, die mit jedem Mal das Herz und die Tränendrüsen öffnen. Der Text spricht all die Verunsicherungen der jungen Generationan, und wie unser korruptes System gemacht ist, um diese Gedanken überhaupt erst auszulösen. Ein System sozialer Erwartungen, das kreiert wurde, um dich zu zerbrechen, dass dich in die dunkelsten Ecken deiner Gedanken schickt. Und doch klingt Paradigms dabei unglaublich tröstend und ermutigend.
The Dying Light beginnt als klassische Klavierballade. Der Titel wirkt wie ein Nachruf auf Dead Boys von Sams erster EP, der sich mit Selbstmord bei Männern auseinandersetzt. Hier beschäftigt sich Sam mit seinen Erinnerungen an verstorbene Freunde und Bekannte, aber auch mit seinen eigenen Suizidgedanken. Mit dem Anerkennen der eigenen mentalen Situation und, dass man dabei Hilfe benötigt, schwillt der Song zu einem triumphalen musikalischen Höhepunkt an in dem Moment, an dem der Entschluss steht, dass 'nein, ich werde mir nicht das Leben nehmen; ich kann meine Liebsten nicht hinter mir lassen.' Eine Hymne auf die Hoffnung.
Foto: Daniel Stark
"A lot of these stories were originally about you", schreibt Sam in einem Brief an sein siebzehnjähriges Ich, den er mit der Ankündigung des Albums veröffentlichte, "but they belong to everyone, as everyone has their own, and they will be screamed back at you – from clubs and dive bars, even arenas." Die Geschichten des Albums mögen zwar von einem sehr persönlichen Ort kommen, aber finden sich doch wieder im Prozess des Erwachsenwerdens aller. Und mit diesem Album hat Sam ein immersives Panorama geschaffen, zu dem man immer wieder zurückkommen wird, um sich an sein eigenes Heranwachsen zu erinnern.
Am 4. November werden wir dann Sams Texte mitschreien, wenn er bei seiner Mini Europatour einen Stopp macht im Berliner Hole 44. Wir werden davon berichten und hoffen, dass man ihn auch bald wieder auf größeren Bühnen in Deutschland sehen kann.
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